Klett-Cotta (Stuttgart), 1994

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Sommer ’92. Ein altes Mietshaus im Ostberliner Stadtbezirk Mitte. Eine Frau sitzt zuhause an ihrem Computer. Die Geräusche des Hinterhofes im Ohr, übersetzt sie ein Buch über den französischen Revolutionär Saint-Just. Dazwischen Ereignisse des Tages: eine Haushaltsauflösung nach dem Selbstmord der Mieterin. Besuch von Max, einem windigen Szenetyp.
Telefongespräche mit Johannes, dem Ehemann, der in den Westen gegangen ist. Briefe aus Amerika, geschrieben in den sechziger Jahren an die Schwestern König, längst verstorbene Nachbarinnen. Die Übersetzerin findet und erfindet – Erinnerung an eigenes, an fremdes Leben: die Kindheit, die Ferienlager auf Rügen, den 17. Juni 1953.
Sie reist zu Johannes. Auf einer Party unter erfolgreichen Westmenschen zieht sie eine Fremde ins Vertrauen, erzählt ihr die Geschichte von IM Norma: »Es ist an der Zeit, daß Sie die Wahrheit über mich erfahren …«

Der Anfang

Es ist ein großes Haus, hundert Jahre alt. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, hieß weiter Mitte, als er langst Rand war, dahinter Niemandsland, von der  Schusswaffe wurde Gebrauch gemacht. Mitten in der Stadt Leere, ein Tummelplatz für die Kaninchen, die seit dem Wiederauftauchen der Menschen von dort verschwunden sind, zurück in den nahen Tiergarten.
Von der Ecke, an der das Haus steht, gelangt man jetzt in wenigen Minuten unter hohe Bäume. Sie waren vor dem Krieg schon da oder sind nachgewachsen in fast fünfzig Jahren, jünger damit als das Viertel, das wieder Mitte ist, auch wenn die meisten seiner Straßen so vergessen aussehen wie all die Zeit zuvor. Zufällig stehengebliebene, da und dort frisch verputzte Häuser mit dem vor hundert Jahren festgebauten Gefälle der Annehmlichkeiten vom Vorderhaus über das Quergebäude in die Hinterhofe, einer übersichtlichen Verknappung von Raum, Licht, Wasser, an der später ein wenig herumgebessert wurde, in besonders krassen Fallen. Zu denen zählte das Haus an der Ecke nicht, durchschnittlich dürftig, wie es war und blieb, so dass jetzt, in neuem Licht, seine Hässlichkeit kolossal erscheint und man beim Anblick des Hauses über die Einwohner Bescheid weiß: eine graue, grämliche Masse, in vier Schichten auf das Vorderhaus und die hinteren Eingange A bis E verteilt. Wenn man jedoch eine Weile stehen bleibt,treten aus den Türen Einzelne, die lächeln oder zufällig bunt sind und das Gesamtbild verwischen, so dass sich wenig Allgemeines mehr sagen lässt, außer dass all diese Personen, falls sie nicht bloß zu Besuch sind, in der entsprechenden Spalte ihrer Ausweise denselben Eintrag haben, vielmehr nun dieselbe Korrektur, weil die ….

Ausschnitt aus einem Radioessay von Michael Basse 
Die wiedervereinigte Literatur –  Deutschlandbilder fünf Jahre nach der Wende

Bayrischer Rundfunk, 2. Programm
12. Juli 1995, 22.05 Uhr