Im fernen Osten

Nach einem langen Flug, drei Stunden nach Moskau und acht bis Wladiwostok, erscheint für einen Augenblick das Gehen wie verlernt. Dann wieder selbstverständlich, lässt es die Aufmerksamkeit frei. Sie gilt nun den Schildern, Zahlen und Zeichen auf einem Weg, den man alsbald vergisst. Welcher Flughafen lenkt das Interesse auf die Gestaltung seiner Gänge, Treppen, Fahrstühle, Türen, oder welchen Reisenden packt hier schon die Neugier ? Vorwärts, vorbei, hindurch, um draußen zu sein. Aufgehalten noch am Gepäckband, dann in der Schlange vor dem letzten Kontrollschalter auf dieser Strecke und endlich hinaus in die Wartehalle. Ich folge Hannes, dem Freund, der nicht zum ersten Mal hier ist und dessen bewährte Reiseleiterfähigkeiten mich unterwegs aller Sorge entheben außer der, ihn nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich sehe, dass er jemandem aus der Schar der Abholer zuwinkt, einer großgewachsenen jungen Frau, die ebenfalls winkt. Katja. Lächelnd heißt sie uns willkommen. Auch ihr Mann ist da, Wassili, mit einem geräumigen Auto, an dem mir auffällt, dass das Lenkrad rechts sitzt. Ein japanischer Gebrauchtwagen, sie beherrschen hier das Straßenbild, sagt Hannes. Aber wieso haben die Japaner Linksverkehr, sie gehörten doch nie zum britischen Commonwealth? Die Frage bleibt ungeklärt. Es gibt für Katja und Hannes genügend anderes zu besprechen, viel zu erzählen. Auf Deutsch. Wie geht es, was macht , wo ist jetzt, dann ein Name, eine Geschichte und wieder ein Name, so rundet sich die Welt der gemeinsamen Bekannten. Wassili fährt, er spricht nur Russisch. Ich höre zu und sehe aus dem Fenster auf eine flache Landschaft, dünne kahle Bäume wie Strichzeichnungen vor dem eintönig hellen Himmel, Sibirien an seinem östlichen Ende. Dann kommen Gewerbegebiete, Autohäuser mit den bekannten koreanischen und japanischen Marken, Reklametafeln für Hersteller und Produkte, die ich nicht kenne. Vom Flughafen bis zur Stadt sind es gut vierzig Kilometer. Dank der neuen Schnellstraße und weil Sonntag ist, kommen wir zügig voran. Irgendwann taucht am rechten Straßenrand eine klobige dunkle Tiergestalt auf, ein Bär, denke ich, klar, Russland. Hier beginnt die Stadt, sagt Katja, der Amur-Tiger ist ihr Wahrzeichen. Und die Geschichte vom Tiger und dem Ziegenbock jetzt fällig, sie ging um die Welt, Hannes kennt sie bereits. Im Tierpark nahe von Wladiwostok bekam der Tiger eines Tages einen lebenden Ziegenbock als Futter, aber rührte ihn nicht an. Die beiden wurden Freunde, sie existierten friedlich miteinander, bis Amur auf Timur los ging, der ihn mit Hörnern und Hufen traktiert hatte. Schwer verletzt wurde Timur in ein Moskauer Krankenhaus gebracht und nach seiner Genesung zurück in den Zoo, wo er eine neue Gefährtin bekommen soll. Fortan durch einen Zaun von Timurs Gehege getrennt, hat Amur das Interesse an seinem einstigen Freund offenbar verloren. Den Tierpark werden wir nicht besuchen. Für die Besichtigung der Stadt haben wir in der Mitte der Woche einen Tag frei, an den übrigen vier eine Reihe von Veranstaltungen an der Universität auf der„Russischen Insel“. Dorthin fahren wir. Die Stadt zieht vorbei, auf Hügeln, am zerklüfteten Ende einer Halbinsel im Pazifik gelegen, immer wieder erblickt man Wasser. So schön hatte ich mir die Lage gar nicht vorgestellt. Ja, gern werde Wladiwostok mit San Francisco verglichen, sagt Katja, allerdings, auch zum häufigen Nebel passe der Vergleich. Zum Stadtgesicht leider nicht, denke ich, zunehmend enttäuscht. Als hätten die Erbauer keinen Blick für die Landschaft gehabt. Ein Konglomerat von Häusern, auf gut Glück über die Hügel verteilt, nichts planerisch Komponiertes, eine chaotisch gewachsene Stadt. Nichts, das im Vorbeifahren den Blick fesselt, ausgenommen die neuen Brücken. Von ihnen hatte ich schon gelesen, Projekt der Superlative, beide 2012 eingeweiht, Schrägseilbrücken, die eine (Solotoi Most) insgesamt gut zwei Kilometer lang, drei Komma eins die andere (Russki Most), die zur Insel hinüberführt, auf der die Universität liegt. Zunächst kurz noch Halt an einem Einkaufszentrum. Wir wollen uns mit Trinkwasser versorgen. Vor dem, was aus der Leitung kommt, wird man gewarnt, auch wenn es nicht mehr gelb aussieht. Das Angebot an Wassersorten verwirrt mich. Ich hatte mit einer die Auswahl erleichternden Überschaubarkeit gerechnet. Katja und Wassili beraten uns und weiter geht’s. Vergebens versuche ich, mich an Supermärkte während meines letzten Russlandaufenthaltes zu erinnern, zwölf Jahre zuvor, auch damals zusammen mit Hannes. In Saratow an der Wolga hatten wir eingekauft, was wir zum täglichen Frühstück brauchten, aber kein einziges Ladenbild taucht auf. Erinnerungen an eine Markthalle, ja, üppige, weißgekleidete Verkäuferinnen an üppig gefüllten Ständen mit einheimischen Milch- und Fleischprodukten, Obst, Gemüse, Brot, ein überdachter Bauernmarkt, und davor, am Straßenrand sitzend, ältere Frauen mit ein paar Äpfeln oder Tomaten oder Zwiebeln aus dem eigenen Garten. Auch wenn mein Gedächtnis nichts hergibt, um im Vergleich den Versorgungsfortschritt zu ermessen – beträchtlich ist er zweifellos, das Einkaufszentrum „Parus“ (Segel) am Rand von Wladiwostok hat augenscheinlich globalen Anschluss gefunden.
Die Russki-Insel mit ihren Hügeln und Laubwäldern wirkt menschenleer, keine Ortschaften längs der Autostraße, doch ist sie, wie man nachlesen kann, schon seit der Jungsteinzeit bewohnt und beherbergt gegenwärtig auf ihren knapp hundert Quadratkilometern fünf- bis sechstausend Einwohner – die Population der Universität nicht mitgerechnet. Wie viele studieren dort? Etwas über vierzigtausend , sagt Katja. Unvermittelt tauchen in der unscheinbaren Landschaft hohe Bauten aus Beton und Glas auf, ein im Halbkreis angelegter Komplex, dem man die Einheitlichkeit des Großprojektes ansieht, wie aus dem Boden gestampft und in einem Zug durchgestaltet, als wäre das Architekturmodell in die Höhe geschossen. Um auf das umzäunte Gelände zu gelangen, brauchen wir eine spezielle Erlaubnis. Neuerdings habe die Universitätsleitung allen Autos, außer den Shuttlebussen, das Befahren des Campus verboten. Katja sagt dies lächelnd, mit leichtem Kopfschütteln und hält die nötige Ausnahmegenehmigung bereit. So rollen wir bis vor den Eingang unserer Unterkunft. Wir sind im Gästehaus der Universität untergebrat, hatte Hannes angekündigt. Es erweist sich als komfortables Hotel und ist eines unter fünf gleichartigen terrassenförmigen Gebäuden, die nummeriert sind: Gostiniza 1.
Während des Eincheckens bleiben Wassili und Katja noch bei uns. Zwar hatte ich einige Monate vor der Abreise mein karges Russisch im Internet aufgefrischt, aber dem Härtetest einer etwaigen Auseinandersetzung um Formalitäten wäre es so wenig gewachsen wie das Englisch der Rezeptionistin. Nach vollbrachter Anmeldung drückt Katja jedem von uns ein graues Pappkärtchen in die Hand: Ganz wichtig, der Propusk. Meiner trägt die Nummer 4505 und berechtigt mich als priglaschenny professor für die Zeit vom zweiten bis achten April 2017 zum Besuch der Universitätsgebäude A, B, D. Mein Name ist in einer sorgfältigen, nach rechts geneigten Handschrift eingetragen, die mich wie das Blau der Tinte an die Briefe meiner einstigen Freundinnen Larissa und Ljudmila erinnert. Katja und Wassili begleiten uns mit dem Gepäck zum Fahrstuhl und hinauf bis in unsere Etage, vergewissern sich, ob mit den Zimmern alles in Ordnung ist. Ich winke ihnen zum Abschied nach, diesen freundlichen Akteuren eines gut organisierten Empfangs in dem Land, das ich in Gedanken manchmal noch, mich schleunigst korrigierend, Sowjetunion nenne.
Zimmer und Bad überraschen mich mit ihrer Geräumigkeit, der bequemen, gut durchdachten Ausstattung. Man richtet sich mühelos ein, benutzt das Ganze gern und wird es in seiner standardisierten Zweckmäßigkeit (bei Hannes sieht es, seitenverkehrt, genauso aus) auch bald vergessen haben. Anders vielleicht, hätten wir eines der Apartments mit den riesigen Terrassen- die Präsidentensuiten, sagt Hannes – von innen erblickt. Sie sind unbewohnt wie anscheinend die meisten Zimmer hier.
Wir verstauen unsere Sachen und machen einen Gang über den Campus zum Hauptgebäude, in dem sich das Universitätsmuseum, die Bibliothek, ein Theater- und Konzertsaal befinden, alles sehr groß hoch hell und leer. Außer einer kleinen Gruppe, die ein Pantomimestück mit Gesang probt und zwei Studentinnen, die uns auf Englisch als Deutsche ansprechen, begegnen wir nur den Wachleuten am Eingang, von denen sich einer trotz der üblichen gestrengen Miene als hilfsbereit erweist und Hannes zeigt, wie er an einem Bankautomaten Geld auf sein Handy mit russischer Nummer (sie braucht man hier für den WLAN Zugang) laden kann.
Über das leicht abfallende Gelände gehen wir hinunter zur Bucht, an der die Sportplätze der Universität liegen. Dort , immerhin, sind einige Menschen unterwegs, Läufer, die auf der Aschenbahn ihre Runden drehen, Spaziergänger am schmalen, grobkörnigen Strand. Weiter draußen ankern Schiffe. Vielleicht ist das hier, abseits der Häfen von Wladiwostok, eine Art kostenloser Parkplatz. Im Dunst erkennt man die Rücken einer Hügelkette, die Pfeiler der Russki- Brücke schon nicht mehr. Der Ozean, vielmehr sein Japanisches Meer genannter Ableger hier, ist still, seine Farbe ein sanftes Aquablau, das verblasst , verdünnt, wie ausgeblichen sich im wolkenlosen Himmel wiederholt. Wir kehren um. Zwar ist es nicht kalt, nahe an zehn Grad plus, aber ich friere, wahrscheinlich aus Müdigkeit nach dieser Nacht im Flugzeug. Wir wollen irgendwo einkehren. Hannes erinnert sich an ein Restaurant, doch schon auf dem Weg dorthin ahnen wir, dass es geschlossen ist. Der Campus erscheint wie ausgestorben, die Sonntagsruhe allumfassend. Auch die Bibliothek im Hauptgebäude, in die wir von oben hineinsehen konnten, war außer Betrieb. Diese völlige Abwesenheit von studentischem Leben, die Stille überall auf dem Gelände ist mir unheimlich. Wozu und für wen der riesige Aufwand an Gebäuden, Wegen, gestalteten Rasenflächen und kleinen Plätzen. Mag sein, dass es im Sommer anders zugeht, belebter, bunter, aber auch dann säße hier niemand auf Kaffeehausterrassen. Unterrichtsräume, Sportstätten, Fahrradverleih, ein paar Kantinen und kleine Läden. Die Bewohnerinnen der Internate müssen in die Stadt fahren (mit dem Bus dauert es etwa eine dreiviertel Stunde), um in eine Disco, ein Kino oder eine Bar zu gelangen. Alkoholkonsum ist auf dem gesamten Gelände, auch in den Unterkünften untersagt. Den Hotelgästen freilich nicht, nur müssen die von außerhalb mitbringen, was sie zur Selbstversorgung brauchen. Wir werden daran denken, wenn wir in die Stadt kommen.
Für heute Abend genügen schwarzer Tee und ein roter, sämiger Fruchtsaft, der gut schmeckt. Die kleine Kantine in unserem Hotel ist geöffnet, wir sind die einzigen Gäste, hinterm Tresen mehrere geschäftige Küchenfrauen, von denen eine auch an der Kasse Dienst tut. Die Auswahl an Gerichten ist reichlich: Suppen, Salate, Geflügel, Fisch, Bouletten, gefüllte Teigtaschen, Gemüsebeilagen, Omelette, Reis und Kartoffeln, Süßspeisen, sämtlich mit Namen (die ich übersetze oder errate) und Preisangabe ausgeschildert. Die freundlichen Frauen zeigen uns – einige Gerichte sind höchstens lauwarm – ,wo die Mikrowelle steht. Es gibt auch einen Samowar mit heißem Wasser für die Teebeutel. Ich übe mich im Umrechnen, teile durch Sechzig, was ich in Rubeln ausgebe, etwas über vier Euro hat diese erste Mahlzeit hier gekostet.
An der Rezeption erhalten wir die Wasserkocher, um die wir gebeten hatten. Benutzt habe ich meinen dann nur, solange die Nescafé-Tütchen reichten, die uns Bärbel nebst Studentenfutter und Dinkelkeksen mitgegeben hatte.
Weil ich kein Handy mit russischer Telefonnummer habe, muss ich auf WhatsApp verzichten und schicke Jörn eine SMS. Sofort kommt Antwort, in Deutschland ist erst Nachmittag. Ich falle ins Bett, schlafe gleich ein, wache allerdings um zwei Uhr wieder auf und lese mich dann müde in dem fesselnden Roman, den mir Hannes empfohlen hat : „Berlin liegt im Osten“. Für mich aber in den nächsten zwei Wochen sehr fern im Westen.
Am Montag beginnt die Arbeit. Zwei Veranstaltungen stehen auf dem Plan, ein Vortrag über „Berlin als geteilte Stadt der Literatur“ und zusammen mit Hannes ein „dialogisches Kolloquium“ zum Thema „Was bedeutet Deutschland für uns und unsere Generation?“
Zunächst aber sind wir mit der Leiterin der Germanistikabteilung Ljudmila Kornilowa verabredet. Wir machen uns auf den Weg zum Gebäude D. Der Campus ist nun belebt, über das weitläufige Gelände eilen sie zum Unterricht, Europäer und Asiaten. Die Universität wirbt mit ihrer Internationalität (Studierende aus 52 Ländern, steht in einem der Prospekte), ihrer kulturellen Vermittlungsrolle im Asiatisch-Pazifischen Raum. Hier ist Moskau weit weg, China nahebei, Korea ebenso und Tokio zwei Flugstunden entfernt. Es war der APEC Gipfel 2012 unter russischer Schirmherrschaft, der den Anlass zu einem prestigeträchtigen Großprojekt lieferte. Ihm verdankte die aus vier führenden Hochschulen hervorgegangene Fernöstliche Föderale Universität von Wladiwostok ihren neuen Standort auf den Hügeln einer dünn besiedelten Insel außerhalb der Stadt. Da war Moskau wieder ganz nah. Am letzten Tag des Gipfels, der im nagelneuen Kongresszentrum tagte, übergab Präsident Putin den Studierenden der FEFU einen symbolischen Schlüssel zum Campus.
Die hier in einem der Internate wohnen, haben es bequem und können sich ohne zeitraubende Anfahrten, ohne Ablenkung durch Vergnügungsangebote voll auf das Studium konzentrieren: Genau das Richtige, sage ich zu Hannes, für strebsame Asiaten. Und ein Problem für die Lehrkräfte, sagt er, die ja in der Stadt wohnen und die frühere Nähe zu ihrer Arbeitsstelle, die urbane Umgebung vermissen. Die Aufwertung der Universität zum Vorzeigeobjekt, dem „Flaggschiff der höheren Bildung“ in Russlands fernen Osten erweist sich für einige, mit denen wir sprechen, als ein Danaergeschenk, oder mit den Worten einer altgedienten Französischdozentin: C’est l’enfant de notre président, vous comprenez´?
Jedoch, uns als Gästen für kurze Zeit zeigen sich vor allem die angenehmen Seiten des Neuen, von den funktionierenden Fahrstühlen, der hilfreichen Ausschilderung über die hellen, sauberen Unterrichtsräume, Flure und Treppenhäuser bis hin zu den tadellosen Toiletten. In allem das Gegenteil der versifften Räumlichkeiten in meiner Erinnerung an die Universität von Saratow. Wir fahren in die neunte Etage und können beim Gang den Flur entlang durch die Glasscheiben der Türen Blicke auf das Unterrichtsgeschehen werfen. Im Büro von Ljudmila Kornilowa erwartet uns ein junger Lektor der Bosch-Stiftung, seinen Vornamen missverstehen wir als Dennis, was er offenbar gewohnt ist. Danny heißt er, mit Nachnamen Lenz, und stammt aus Linde in Brandenburg, einem Dorf mit besonders hohem Anteil an Rechtsradikalen, sagt er. Damit wir uns von dem anheimelnden Namen nicht täuschen lassen, denke ich. Danny bewirtet uns mit Kaffee und Gebäck. Wir plaudern, stellen Fragen. Hannes bemerkt im Regal einen Stapel Taschenbücher: Uwe Timms „Entdeckung der Currywurst“. Das lesen sie in Auszügen. Schwerpunkt der Ausbildung ist der Sprachunterricht, dann Landeskunde, nur am Rande Literatur. Aber es verirrten sich auch mal Schriftsteller in die Gegend, so war Katerina Poladjan zu einer Lesung da, sagt Danny und zeigt auf ein Plakat neben der Tür. Das trifft sich gut. Sie ist eine von den sechs aus Russland stammenden Autorinnen, deren auf deutsch geschriebene, in letzter Zeit erschienene Romane Hannes in einem Seminar hier vorstellen wird. Einen Teil von ihnen hat Danny gelesen, er interessiert sich für das Deutschlandbild, den Heimatbezug, die Sprache dieser Migrantinnen und erzählt von seinen Aufenthalten in Russland, den Reisen, die er noch vor hat, bevor er in diesem Jahr (es klingt nach: leider) zurück nach Deutschland geht. Die Studierenden haben Glück mit diesem Lektor, finden wir. Ljudmila kommt, eine gut aussehende, gut gekleidete Frau in den Fünfzigern, mit dunklen Augen und kurz geschnittenem schwarzem Haar. Die Begrüßung mit Hannes ist herzlich und vertraut, Geschenke werden überreicht, unter anderem Kaffee, den Ljudmila sehr zu schätzen weiß. Ich bekomme sibirischen Honig, aus dem Souvenirsortiment der Uni einen Schreibblock nebst Kugelschreiber, einen Trinkbecher und ein Abzeichen, das alles in einem Stoffbeutel, den russische und chinesische Studenten während eines Umweltprojektes entworfen und farbig bedruckt haben, „Natur ist geil“, lese ich.
Danny besorgt uns Wasser, er selbst greift zu einer großen weißen Plastikflasche mit Kwas von der Sorte, die ihm am besten schmeckt, dann gehen wir (und nehmen lieber die Treppe als den Fahrstuhl, mit dem man umsteigen müsste) hinunter in die vierte Etage, wo mein Vortrag über Berlin stattfindet.
Hannes ist mitgekommen, eine moralische und auch praktische Unterstützung. Er schreibt die im Vortrag fallenden Namen – es sind nicht wenige – an das Whiteboard hinter mir. Ich bemühe mich, langsam und sehr deutlich zu sprechen. Der Text ist alt, aber da er hauptsächlich vom geteilten Berlin handelt, Korrekturen durch die Geschichte nicht mehr unterworfen. Ich habe ihn schon auf Englisch vor amerikanischen College-Studenten vorgetragen, beim Übersetzen auf Möglichkeiten zur Vereinfachung geachtet. Dennoch mag er die Zuhörerschaft überfordern – sprachlich und durch seinen Inhalt, der den Zwanzigjährigen so prähistorisch vorkommen muss wie die meisten Ereignisse vor ihrer Geburt. Etwa fünfundzwanzig sind erschienen, davon ein knappes Drittel Jungen. Sie sitzen aufmerksam da, einige schreiben mit oder haben es zumindest vor, Papier und Stifte liegen auf den Tischen. Wenn ich vom Blatt aufsehe, trifft mein Blick Gesichter, die nichts verraten, im Hintergrund die dekorierte Rückwand: Eine Deutschlandkarte, bunte Plakate mit großen kyrillischen Buchstaben, die beim Lesen zwei deutsche Wörter ergeben: Kinderlachen, Autofahren, in der Mitte eine schwarz rot goldene Fahne, auftrumpfende Farben im hellgrauen Raum.
Nach dem Vortrag Stille. Keine Fragen, keine Diskussion. War jemand von ihnen schon in Berlin? Keine Antwort. Danny versucht zu animieren, zeigt auf der Karte die Lage der Stadt, um die es geht, und fährt den ehemaligen Grenzverlauf entlang: Westberlin lag also mitten in der DDR. Hatten sie das nicht gewusst oder nicht verstanden, als ich es mit Zitaten aus Peter Schneiders Erzählung „Der Mauerspringer“ zu veranschaulichen suchte? Was hatten sie überhaupt verstanden? War die ganze Veranstaltung schlicht ein Schuss in den Ofen? Danny beruhigt mich : diese Reaktionslosigkeit – eine ganz normale Reaktion. Sie alle scheuten sich, Deutsch zu sprechen, einige von ihnen seien erst im zweiten Studienjahr.
Der mich dann auf dem Flur anhält, sagt, dass er neunzehn sei und mit seinen Eltern schon ein paar Jahre in Deutschland verbracht habe. Ob man ihn für einen Deutschen halten könnte? Durchaus. Ob er ein Foto machen dürfe? Warum nicht. Wir stellen uns dicht nebeneinander, er streckt den Arm aus, nimmt uns auf, möchte sich noch weiter mit mir unterhalten. Ich verabschiede mich rasch: bis gleich.
Und es geht nach kurzer Pause weiter – mit derselben Gruppe im selben Raum. Hannes (auch mit ihm hatte der Junge schnell noch ein Selfie gemacht) und ich als Angehörige der Kriegsgeneration führen ein Gespräch über unser Deutschlandbild : wodurch es beeinflusst wurde, worin es sich geändert hat. Wir versuchen zu erklären, warum Patriotismus uns fremd ist und was wir an Deutschland schätzen. Dann fragen wir in die Runde, ob man unsere Einstellung verstehen, sie nachvollziehen kann? Danny wird direkter: Was bedeutet für euch Heimatliebe, fühlt ihr euch als Patrioten? Das ist ziemlich forsch, eine persönliche Frage, sind sie derlei gewöhnt, wie frei können oder wollen sie sich äußern? Gleichviel, jetzt wird es lebhaft, denke ich. Aber nichts geschieht. Niemand rührt sich, sie schweigen unerbittlich weiter. Es nervt. Ich halte an mich, um nicht herauszuplatzen: Dazu muss man doch eine Meinung haben!
Und bin noch aufgebracht, als wir zur Stolowaja „Island“ gehen, wo wir mit Ljudmila zum Mittagessen verabredet sind. Hannes als alter Unterrichtsprofi sagt, meine Frustrationstoleranz sei zu niedrig. Wohl wahr. Fehlende Übung, an einer Universität war ich zuletzt vor zwölf Jahren, mit dir in Saratow, sage ich.
Und dies ist gewiss das allerletzte Mal. So zu denken, hatte etwas Feierliches: Dass ich das noch erlebe! Solch weite Reise, und nicht als Touristin. Mit einem Arbeitsauftrag. Und wieder nach Russland, wohin mich meine erste Dienstreise geführt hatte, 1970 nach Leningrad. An das östliche Ende jetzt. Wievielmal würde Deutschland in die Strecke passen, die wir auf dem Flug hierher zurückgelegt haben? Schon auf der unvergesslichen Reise durch Mittelasien, von Turkmenistan bis nach Kirgisien , im Juni 1972, erschien es mir unfasslich, dass ein Land solcher Größe und Verschiedenartigkeit regierbar war, dass es nicht auseinanderfiel. Damals hatten wir beim Anblick von Medressen, Mausoleen und Moscheen, im Inneren von Jurten und auf schaukelnden Kamelrücken uns vorsagen müssen, dass wir immer noch in der Sowjetunion waren. Dabei existierte sie nicht bloß als politischer Begriff und unsichtbares Band. Die Schrift, die Wohnhäuser, Straßenlöcher, hohen Bordsteigkanten, die Trolleybusse und Moskwitschlimousinen, der Naphtalingeruch und das Veilchenparfüm, die Lenindenkmäler, Pioniertrachten, Haarschleifen, die schön gedeckten Restauranttische, die blaue Tinte, die Kwaswagen, die Nummerierung der Stockwerke und die Etagenwächterinnen in den Hotels – der Sojus war allgegenwärtig.
Auch im neuen, kapitalistischen Russland ist er nicht gänzlich verschwunden. „Das ist wie früher“, sage ich zu Hannes und meine zum Beispiel in den Gebäuden die unvermuteten Schwellen, Stolperstellen, auf die er mich aufmerksam macht, oder den Zustand der Gehwege. Sogar auf dem Gelände der Universität, das erst vor fünf Jahren angelegt und gestaltet wurde, sind Wegplatten und Fliesen schon gesprungen, bröckeln Treppenstufen. An früher erinnern mich all die Beschäftigten, die als Wärterinnen, Kontrolleure, Wachleute postiert sind und beschäftigungslos wirken, „verdeckte Arbeitslosigkeit“ hieß das bei uns. Aber, denke ich jetzt, eben keine Arbeitslosigkeit, sondern – wenngleich miserabel bezahlte – Jobs.
Wie früher auch: die Menge an Denkmälern, in Wladiwostok fällt es mir auf. An unserem freien Tag kommt Ljudmila extra in die Universität, um dann mit uns im Bus in die Stadt zu fahren, durch die sie uns führen wird. Noch ist es neblig. Auf halsbrecherischen Wegen erklimmen wir den höchsten Hügel, auf den eine Seilbahn fährt. Sie benutzen wir, die einzigen Fahrgäste, dann für den Rückweg. Eine Schaffnerin kassiert in der Kabine. Ljudmila zeigt hinunter auf Häuserschemen, ich erkenne ein grünes Dach und einen spitzen grünen Turm: die neugotische Pauluskirche. Vor hundertzehn Jahren vom deutschen Architekten Georg Junghändel entworfen, gilt sie neben dem Bahnhof als das wertvollste Baudenkmal der Stadt. Nach 1935 in einen Matrosenclub umgewandelt, dann in ein Kino, diente sie schließlich als Militärmuseum der sowjetischen Pazifikflotte und befand sich 1997 bei ihrer Rückgabe an die Lutherische Gemeinde in einem Zustand, der aufwändige Sanierungsarbeiten erforderte. Nunmehr ist sie ein Schmuckstück mit einer Freitreppe am Haupteingang, drei neuen Glocken, zwei Orgeln und farbigen Bilddarstellungen auf den Glasfenstern der Apsis. Auf eine Besichtigung sollten wir besser verzichten, Ljudmila und Hannes kennen den redseligen Selbstdarstellungseifer des Hamburger Pastors, der seit Beginn der 1990er Jahre hier tätig ist und die Propstei Ferner Osten leitet.
Am Fuss des Hügels fällt mein Blick auf ein prächtiges weißes Wohnhaus mit Erkern kleinen Türmen und einem blass himbeerroten Dach. Hier habe Frau Unterberger ihre Kindheit verbracht, sagt Ljudmila und erzählt vom bevorstehenden Besuch der Dame, die als Nachfahrin des Militärgouverneurs Pawel Unterberger, eines Deutschen im Zarendienst, mit der Geschichte Wladiwostoks verbunden ist.

Etliche Deutsche haben in der Region ihre Spuren hinterlassen, als Gouverneure, Militärs und Kaufleute, alle involviert in die russische Expansion nach Osten. Die Festung Wladiwostok steht nicht auf unserem Besuchsplan. Das Museums-U-Boot am Stadthafen und eine Reihe patinierter, sicher schon im russisch-japanischen Krieg tätiger Geschütze sehen wir im Vorbeigehen, ich mache rasch ein paar Aufnahmen.
Fotogener ist zweifellos das Jugendstilpalais, vom Architekten Junghändel für die Hamburger Gustav Kunst und Gustav Albers entworfen. Sie gründeten das erste deutsche Kaufhaus an einem Ort, der 1864, als Gustav Albers in der „Seegurkenbucht“ vor Anker ging, ein Kaff aus 44 Holzhäusern war. Auch das Kaufhaus war aus Holz, bevor an seiner Stelle der Prachtbau von 1907 entstand, seit seiner Verstaatlichung 1930 das GUM von Wladiwostok. Wir werfen einen Blick in den restaurierten Hof des Kaufhauses, wo der frühere Chinesenmarkt einem Parkplatz weichen musste. Vielleicht ein Relikt von damals: die Abbildung einer im Lotossitz über den Wolken schwebenden vielarmigen Gottheit mit Elefantenrüssel, die für ein Lokal namens Big Buddha wirbt – in kyrillischen Buchstaben. Trotz der Nachbarschaft mit China und Korea, trotz des einstigen Chinesenviertels „Millionka“ (ungezählte Einwohner, geschätzt eine Million), trotz der Dominanz japanischer Autos und der Vielzahl von Asiaten im Straßenbild zeigt sich Wladiwostok als eine europäische Stadt, eine russische mit russischem Geschichtsbewusstsein – die restaurierten oder neu erbauten orthodoxen Kirchen, der Triumphbogen, bunt wie die Kremltürme, für den Zarewitsch Nikolai, der 1891 die Stadt besuchte, die Denkmäler der Heiligen Kyrill und Method, des legendären Ilja Muromez, der sowjetrussischen Volksheroen: Soldat, Matrose, Arbeiter und Bäuerin in kämpferischen Posen. Nicht minder monumental und für uns an diesem Ort ganz unerwartet: Alexander Solschenitzyn am Hafenbecken, leicht ausschreitend, als wäre er hier soeben an Land gegangen. Hannes stellt sich neben ihn, ergreift seine freie Rechte und lässt sich fotografieren. Das Bild zeigt einen Riesen aus Bronze und ihm knapp bis zum Ellbogen reichend einen weißbärtigen Mann, der aussieht wie ein alter Chinese. Ob Solschenizyn nach seiner Entlassung aus dem Gulag zunächst hierher gekommen oder von Wladiwostok aus ins amerikanische Exil gereist oder bei seiner Rückkehr von dort hier gelandet war? Auch Ljudmila weiß es nicht. Sie führt uns zum Denkmal eines anderen Emigranten, der es in Amerika zu Filmruhm brachte und nun kahlköpfig, im asiatischen Kostüm des Königs von Siam als überlebensgroße Statue vor einer hellen dreistöckigen Jugendstilvilla steht, einem auffallend schönen, gut erhaltenen Haus. Hier verbrachte er seine Kindheit, ein Wladiwostoker von russisch-mongolisch-schweizerischer Herkunft: Yul Brynner, sagt Ljudmila. Ob wir ihn kennen? Aber klar. Die Glatze! Cojack aus „Einsatz in Manhattan“, sage ich und lasse mich durch Hannes‘ Zweifel nicht beirren. Ben Hur, sagt er, ebenfalls im Irrtum. Mit der „Glorreichen Sieben“ hätten wir beide Recht gehabt.
Und kein Vertun gibt es dann bei der Identifizierung einer schwarzgrünen, von Bäumen und Häusern umstandenen Statue auf hohem Sockel, die wir von weitem erblicken : Mit ausgestrecktem Arm weist unverkennbar Lenin den Weg in eine lichte Zukunft. Nahe vor uns, gleich neben einem Cola-Automaten, steht ein Trupp junger Männer, die aussehen, als verbrächten sie täglich hier ihre Zeit. Wir wenden uns dem Bahnhof zu, Endstation der legendären Transsib, passieren die Sicherheitskontrolle, bewundern die restaurierten Deckengemälde im früheren Speisesaal, in dem jetzt Schmuck verkauft wird, und die schönen Fliesen im Treppenhaus, aus Deutschland sollen sie stammen. Wir gehen hinunter zu dem Bahnsteig, auf dem eine historische Dampflok ausgestellt ist, eine wie die, in der ein kleines Mädchen neben ihrem Vater, dem Lokomotivführer, einst mitfahren durfte. Ich fotografiere Ljudmila und die Lokomotive, Ljudmila fotografiert mich vor der Meilenstein-Säule mit der Zahl 9288.
Unterwegs zum Lokal, in dem wir Mittag essen wollen, treffen wir, mitten auf der belebten Hauptstraße Swjetlanskaja, Ljudmilas Mann, der vom Arzt kommt. Kurze Begrüßung auf Deutsch. Als Offizier der sowjetischen Streitkräfte hatte er mit seiner Familie einige Jahre in Köthen gelebt. Wie im Paradies, sagte Ljdumila, als sie auf diese Zeit zu sprechen kam, wie im Paradies. Für sie war damals die DDR der goldene Westen und Wladiwostok, Stützpunkt der Pazifikflotte, eine für uns Ausländer – und die meisten Sowjetbürger – gesperrte Stadt. Nach ihrer Öffnung zu Beginn der 1990er Jahre war sie (wie ganz Russland durch den Zerfall der Sowjetunion) von wirtschaftlicher Rezession stark betroffen. In den letzten zehn Jahren habe die Lage sich gebessert, die Region als „Tor nach Osten“ neue politische Bedeutung erlangt – Ljudmila bestätigt, was ich vorweg gelesen hatte. Der Augenschein hilft mit: das herausgeputzte Zentrum, die Uferpromenade, die restaurierten Häuser aus der Zarenzeit, die nostalgisch gestylte Fußgängerzone in der Admiral Fokin-Strasse, „unser Arbat“, sagt Ljudmila. Tourismus soll sich entwickeln, die entlegene Stadt zum Anziehungspunkt werden.
Das Kellerrestaurant, in dem wir einkehren, eine „Pelmennaja“, bietet russisch-ukrainisch-osteuropäische Küche. Es ist ausstaffiert mit einer Menge hölzerner Gefässe und Geräte in linearer Anordnung auf den unverputzten Backsteinwänden, mit Reihen nackter Glühbirnen an lindgrün gestrichenen Deckenbalken und Holzbänken wie aus historischen Eisenbahnabteilen zweiter Klasse. Die Kellnerinnen sind blond, flink, freundlich. Wir bekommen Speisekarten auf Englisch und Chinesisch, wählen Hühnerbrühe, Schtschi und Borschtsch, als Hauptgericht Pelmeni aus einem variantenreichen Sortiment. Russische Küche, wie sie mir immer schon gefallen und die baltischen Gerichte zu Hause mitgeprägt hat. Wieder einmal denke ich daran, dass der älteste Bruder meines Vaters noch als Kavallerist in der zaristischen Armee gedient hat, Pflicht eines russischen Staatsbürgers deutscher Abstammung. Zu einem Gesprächsthema zwischen Ljudmila, Hannes und mir wird das nicht. Wohlgesättigt ziehen wir weiter, vorbei am klassizistischen Hotel Versailles, in dem Brecht, aus Moskau kommend, wo Margarete Steffin schwer erkrankt zurückblieb und im Krankenhaus verstarb, mit seiner Familie ein paar Wochen zubrachte, bevor sie nach Amerika emigrieren konnten, sagt Hannes. Diese bedrückende Geschichte. Ob im Hotel irgendetwas daran erinnert, eine kleine Gedenktafel oder so? Ljudmilas Kopfschütteln zeigt mir, wie abwegig die Frage ist. Nach ein paar Minuten sind wir an einer Stelle der Stadt, die Vorstellungen von sommerlichem Treiben weckt, Strand, Meer und reihenweise Kioske, im Hintergrund das Dynamo-Stadion, über uns ein wolkenloser blassblauer Himmel. Bei gutem Wetter sitzt bestimmt halb Wladiwostok hier und isst Eis, wie sind eigentlich die Sommermonate? Mild und regnerisch mit angenehmen Wassertemperaturen, sagt Ljudmila.
Nach kurzer Einkehr in einem Café, wo wir guten Cappuccino bekommen, führt Ljudmila uns zum „hiesigen Arbat“, in ein kleines Geschäft namens „Kluge Produkte“, womit plastikfreies Spielzeug gemeint ist. Sie will Hannes Geschenke für seine Enkelkinder mitgeben, er soll sie bei der Auswahl beraten. Das dauert seine Zeit. Schneller geht es dann im Supermarkt, wir kaufen Rotwein aus dem südrussischen Kuban-Gebiet.
Mittlerweile herrscht dichter Verkehr, Gedränge auf den Bürgersteigen und an den Bus-Haltestellen. Wir beschließen, mit dem Taxi zurückzufahren. Die offiziellen erweisen sich als zu teuer um diese Zeit. Ljudmila wählt die Nummer eines Charter-Unternehmens. Sie beschreibt die Ecke, an der wir warten (ich höre sie Straßennamen buchstabieren) und erfährt kurz darauf aus dem Call-Center – in Sankt Petersburg oder sonstwo – Kennzeichen, Marke, Farbe des Autos, das uns abholen kommt. Ich mache ein letztes Foto an diesem Ausflugstag: Schräg gegenüber, neben einem Hochhaus mit gläserner Fassade, sitzt auf dem Dach eines weißen Flachbaus eine dunkle Gestalt, locker, ein Bein übergeschlagen und blickt die Straße hinauf. Ein junger Mann mit Hut? Ein Matrose, sagt Ljudmila, die es wissen muss. Die anmutigste der Skulpturen, die wir heute hier gesehen haben, finde ich. Kein Denkmal, ein überraschender Scherz.
Mit dem Fahrer haben wir Glück. Geschickt und zügig bringt er uns auf Schleichwegen aus der Stadt. Diese Nadelöhre würde sie stets meiden, sagt Ljudmila voller Anerkennung. Wir beide sitzen hinten, ich erzähle von meinem Berufsleben, wie ich zum Schreiben gekommen bin, Ljudmila hört zu oder ruht sich einfach aus vom vielen Deutschsprechen tagsüber. Ich fühle mich wohl neben ihr und bedauere, wie schnell diesmal die Fahrt vorüber ist. Für Hannes und mich jedenfalls. Wir winken Ljudmila nach, die zum Parkhaus auf dem Campus geht. Mit ihrem Auto wird sie in die Stadt zurückkehren, morgen früh zur Einführung in meine Lesung wieder hier sein. Wir werden in der Stolowaja „Island“, der Kantine mit der besten Küche, gemeinsam Mittag essen, tags darauf zum letzten Mal. Vielleicht sehen wir uns in Deutschland wieder?
Am Sonnabend um neun Uhr holt Katja uns ab. Dichter Nebel, der sich vor dem Flughafen lichtet. Wir sind zeitig da und können in aller Ruhe frühstücken. Das Café, dunkel getäfelt, wirkt gediegen und irgendwie britisch. Am Nebentisch sitzt eine Gruppe, wir halten sie für eine Musikband, drei übernächtigt aussehende junge Männer und eine blonde Frau, deren Haarkranz an Julia Timoschenko erinnert, auffälliger noch ist ihr steifer bunter Mantel, bedruckt mit der Aufschrift „No tears but love“. Eine Botschaft zum Abschied von Wladiwostok?

Chabarowsk

Ich verlasse die Stadt und ihre Universität auf der Insel ohne Bedauern. Hier ist man am Ende der Welt, denke ich, Wasser und Nebel, ein paar Tage Sommer. Eine Gedenksäule zählt die Eisenbahnkilometer bis Moskau, mit dem Flugzeug erreicht man in knapp zwei Stunden Tokio oder Seoul. Aber als ein „Tor nach Asien“ existiert Wladiwostok, wenn man von den Gebrauchtwagen absieht, bislang eher in wirtschaftspolitischen Strategien als augenscheinlich im Leben auf den Straßen. Was hatte ich mir denn vorgestellt. Aus der Schulzeit stammte mein Bild von einer Festungsstadt auf steilem Ufer, weiß wie die Rügener Kreidefelsen, und Folge eines Missverständnisses. In dem Lied „Partisanen vom Amur“ – ich kannte die erste und die letzte Strophe – zog „unsre kühne Division hin zur Küste dieser weißen, heiß umstrittenen Bastion“. Im Russischen Bürgerkrieg nach der Revolution von 1917 diente Wladiwostok als Nachschublinie für die „Weißen“ unter Admiral Koltschak. Nach langen Kämpfen in der Küstenregion setzten die „Roten“ sich durch und erreichten die Stadt dann im Dezember 1922.
Wir verlassen sie in einem der weiß-blauen Flugzeuge von Aurora Airlines. Das ist, sagt Hannes, ein noch junges, auf Anweisung von Premierminister Medwedjew gegründetes Aeroflot-Tochterunternehmen mit Sitz auf Sachalin. Also wiederum ein „Präsidentenkind“, das Schwung in die Entwicklung Ostsibiriens bringen soll. Schwungvoll ist zunächst die Begrüßung durch Olga, die neben Hannes Platz nimmt und es toll findet, dass wir aus Deutschland kommen, dass wir nach Chabarowsk wollen wie sie, die als leitende Bankangestellte von einer kleinen Dienstreise zurückkehrt. Deren Abschluss muss sich weit in die Nacht erstreckt haben, alsbald ist Olga eingeschlummert und erwacht, von ihrer Kollegin jenseits des Ganges geweckt, erst kurz vor der Landung zu einem freundlichen Abschied. Mit seinen zwanzig Wörtern Russisch hat Hannes, einmal mehr, eine Reisebekanntschaft geschlossen, der ich ausgewichen wäre. Im Grunde verhalte ich mich nicht anders als Ljudmilas Studierenden, wenn sie lieber nichts sagen als einen Fehler zu machen. Und es mangelt mir, wie schon meine Mutter feststellte, an einem gewissen „mitmenschlichem Interesse“. So bin ich ganz zufrieden mit meinem Platz am Fenster, aus dem ich auf wechselnde Wolkenfelder sehe.

In Chabarowsk empfangen uns Sergej Schtscherbina und ein schweigsamer Student. Sie sind mit einem Auto der Universität da. Die Strecke vom Flughafen in die Stadt ist deutlich kürzer als in Wladiwostok, aber die Fahrt zieht sich hin im dichten, stockenden Verkehr. Nach dem Wortwechsel zur Begrüßung und der Aushändigung von zwei fürsorglich mit Teebeuteln, Brot, Käse und Jogurt gefüllten Lunchpaketen redet nahezu pausenlos Sergej, mit dem Thema Wasserleitung in seiner Datsche vom Hundertsten ins Tausendste kommend. Hannes hatte es angekündigt: Er spricht ein fabelhaftes Deutsch, von dem er ausgiebig Gebrauch macht.
Ich höre bald nicht mehr zu und lasse die Stadt auf mich wirken. Sie erscheint mir einladend, übersichtlich, von nüchterner Betriebsamkeit, weder heruntergekommen noch besonders reizvoll. Unser Hotel liegt nicht weit von der Universität an einer der Magistralen im gitterförmig angelegten Straßennetz. Gleichfalls in der Nähe befindet sich ein Einkaufszentrum, gruppiert um einen UFO-ähnlichen Rundbau mit Metalldach, von meinem Fenster aus zu sehen, wenn ich nach rechts blicke. Dem Hotel gegenüber, auf der anderen Seite der breiten Fahrstraße, erstreckt sich ein Block aus (nach russischer Zählung) fünfstöckigen hellgrauen Steinhäusern mit kleinen Fenstern und Balkonen, etliche von ihnen – vermutlich auf Initiative der Wohnungsinhaber – nachträglich verglast, Auflockerungen der frontalen Monotonie.
Monoton wirkt auch die Landschaft, durch die wir fahren. Kein Schnee mehr, die Bäume noch kahl, matte Grau- und Brauntöne. Im Sommer müssten wir die Gegend hier sehen, sagt Larissa, es klingt wie eine Entschuldigung. Nach einer kleinen Mittagsruhepause hat sie uns im Hotel abgeholt, Larissa Kulpina, Lehrstuhlleiterin an der Universität von Chabarowsk (TOGU). Mit Hannes ist sie im Rahmen der „Germanistischen Institutspartnerschaft“ seit langem verbunden. Auch ich bin ihr vor Jahren in Essen begegnet, bei einer Diskussion über Gaito Gasdanows Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“, in der mich ihr Deutsch sehr beeindruckt hatte. Wie russisch sie aussieht, denke ich jetzt (wie ich übrigens auch von Putin denke, dass er russisch aussieht) und könnte diesen Eindruck nicht begründen. Sie hat für uns ein Aufenthaltsprogramm ausgearbeitet, es umfasst nicht nur die Lehrveranstaltungen und beginnt mit einer Autofahrt, rund dreißig Kilometer in Richtung chinesischer Grenze. Wir steigen aus und sehen über ein sumpfiges braunes Gelände hinweg auf eine Art Piste, dahinter drei Freileitungsmasten. Dort ist China. In der Ferne erkennt man verschwommen den blaugrauen Umriss einer Hügelkette. Zurück in Chabarowsk, kommen wir, eine Stunde vor Toresschluss, gerade noch rechtzeitig zum Einlass in das Heimatmuseum, einen terrakottafarbenen Ziegelbau mit hoher Glasfront am Eingangsportal. Im Inneren eine Schatzhöhle, bewacht von einer Schar betagter Wärterinnen, die uns misstrauisch oder missbilligend, jedenfalls fernab von Freundlichkeit, im Blick behalten, vermutlich besorgt, dass wir durch zu langes Verweilen das pünktliche Ende ihres Dienstschlusses gefährden. Und in der Tat, in diesem Museum könnte man stundenlang umhergehen, die über mehrere Stockwerke verteilte Kompaktfassung der Regionalgeschichte verfolgen: von den Dinosauriern und Mammuts über die Boote, Zelte, Werkzeuge und schamanistischen Utensilien der Nanai, Ultschen und Ewenken bis zur „Jetztzeit“ , deren Auftakt wohl das Panoramagemälde der entscheidenden Schlacht aus dem Bürgerkrieg bildet: hinter Schneewällen kämpfende Weiße und Rote, es siegen die Partisanen vom Amur. Wie es dann weitergeht in der Sowjetzeit und danach, können wir nur noch im Eiltempo erfassen. Wir waren zu lange bei den wunderbaren Robben, Elchen, Baumkatzen, den schwarzen und braunen Bären und den Amur-Tigern, alle wie lebend in ihre sorgfältig gestalteten, gleichsam ausgemalten Biotope, mitunter in eine szenische Darbietung versetzt, man hätte dort und bei den indigenen Völkern noch Stunden zubringen können … Unsere Zeit aber reicht nicht, auch nicht für die Besichtigung der Knochen eines riesigen Finnwals, dessen rekonstruiertes Skelett in einem Extraraum ausgestellt ist. Wieder im Freien – hinter uns schließt eine elegante Dame, wir halten sie für das Oberhaupt der Wächterinnen, die Museumstür -, gehen wir vorbei an gipsweißen Skulpturen: einem lesenden Schulmädchen, einer Speersportlerin, einem jungen Fanfarenbläser auf das Flussufer zu. Es ist hier steil, eine Klippe, von der man weit über den Amur sieht – zurück in den Winter, auf vereiste Flächen bis an den Horizont. Eine schmale Zone offenes Wasser, graublau wie der Himmel und gesäumt von gefrorenem Schaum, zieht sich am sandigen Ufer entlang. Im Sommer ist es dicht belagert, ein regelrechter Stadtstrand, und im Fluss wird gebadet, sagt Larissa. Jetzt sind vereinzelt Spaziergänger unterwegs, kleine dunkle Silhouetten, winzig vor den aufragenden Wohntürmen, den weißen Häusern am Cliff und einer weißen Kirche mit ihren blendenden Kuppeln. Immer wieder kommt die Sonne hervor, lässt das Panorama der Stadt und die Eisflächen aufleuchten, das Wasser funkeln. Larissa hat uns an ihren Lieblingsort geführt, von hier hat man den wohl schönsten Blick auf Chabarowsk am Amur. Im Weitergehen drehe ich mich um und sehe noch einmal, jetzt von der Seite, auf seinem hohen Sockel Nikolai Murawjow, dem die mit China 1858 vertraglich vereinbarte Grenzziehung den Titel Amurski (Graf von Amur) eingetragen hat.
Dass seine bronzene Statue 1929 abmontiert, durch ein Lenin-Denkmal ersetzt und 1993 dann wiedererrichtet wurde, dass dieses Monument inzwischen auf der Vorderseite der 5000 Rubel-Banknote abgebildet ist, erfahre ich später. Wir sitzen in einem folkloristisch gestalteten Restaurant mit ukrainischer Küche und sprechen über Erinnerungsarbeit in Russland. Als Fazit behalte ich, auch weil meine Wahrnehmungen es belegen, dass diese Arbeit in der Rekonstruktion von Kirchen und Denkmälern, der Wiedereinführung von Straßennamen, der Neuauflage von Büchern und Gedenktagen besteht, die die Sowjetmacht als Relikte oder Zeugnisse zaristischer Herrschaft aus dem nationalen Gedächtnis löschen wollte. Jetzt dienen sie einer patriotischen Rückbesinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Über den Stalinismus reden wir nicht, er grundiert wortlos das Gespräch, das sich bald anderen Themen zuwendet, dem Restaurant „Moskau“ in Ostberlin, meiner Begeisterung dort für Kotelett nach Kiewer Art, den Kontakten von Hannes und Larissa zu einstigen Kollegen und der Planung für den nächsten Tag. Zum Glück werden wir ein Auto der Uni zur Verfügung haben, also flexibler sein als wenn wir, wie ursprünglich vorgesehen, mit dem Zug fahren müssten.
Um 9 Uhr werden wir im Hotel abgeholt. Neben dem Chauffeur sitzt unser Betreuer Pawel, ein Germanistikstudent, der aus Birobidschan stammt, der Hauptstadt des Jüdischen Autonomen Gebiets (ein Territorium von 36.000 Quadratkilometern mit insgesamt 200.000 Einwohnern). Dorthin geht die Fahrt. Wir überqueren die imponierende zweieinhalb Kilometer lange Amur-Brücke auf dem oberen Geschoss, im unteren sind die Eisenbahngleise, und fahren dann knapp hundertsiebzig Kilometer in nordwestlicher Richtung durch eine flache, graubraune Landschaft aus Wiesen, Sümpfen, Birken, Erlen, kleinen Pappeln, über allem ein lichtblauer Himmel. Hin und wieder tauchen Wegweiser auf, Tschita 1000 km, lese ich. Nach etwa zwei Stunden erreichen wir das Ortsschild: zwei hohe Pfeiler dicht nebeneinander, unten in zwei weit geöffnete Flügel oder Arme auslaufend, auf dem linken in russischer, rechts in hebräischer Schrift der Name Birobidschan, dunkelblau auf kreideweißem Grund. Wir halten an zum Fotografieren. Auch unser Chauffeur Artjom steigt aus, er war noch niemals hier.
In den 1920er Jahren wurde Birobidschan im Zuge von Stalins Nationalitätenpolitik als jüdisches Siedlungsgebiet vorgesehen, in dem freilich die Juden zu keinem Zeitpunkt die Bevölkerungsmehrheit stellten, beim Zerfall der Sowjetunion nur noch etwas über vier Prozent, ein Anteil, der durch die Auswanderungen nach Israel und Deutschland weiter geschrumpft ist. Ich entsinne mich, dass Larissa – oder war es Sergej in seinem Redeschwall auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel – erwähnt hat, nach dem Zerfall der Sowjetunion habe Birobidschan den Status einer autonomen Oblast dem eines Rajons in der Verwaltungsregion Chabarowsk vorgezogen – eine aus ökonomischen Gründen mittlerweile bedauerte Entscheidung.
Wir durchstreifen die Stadt zu Fuß. Sie wirkt leer, in Sonntagsruhe versunken. Wenige Autos, wenige Passanten unterwegs. Ich fotografiere an einem Eckhaus, von dem der Putz abblättert, das neu aussehende dunkelblaue Straßenschild mit weißer Inschrift auf Russisch und Hebräisch: Puschkinstraße. Nicht weit davon sitzt auf wuchtigem Sockel, entspannt in seinem Lehnstuhl, ein Manuskript in Händen Scholem Alejchem, der niemals hier gewesen ist. Sein Milchmann Tewje, vom gleichen Künstler in Bronze gegossen, hält überlebensgroß mit Pferd und Wagen neben dem Bahnhof. Auf dessen Vorplatz ragt weithin sichtbar eine Brunnensäule empor, die der sechsarmige Leuchter krönt wie ein Wahrzeichen der Stadt. Mir fällt ein Ausdruck ein, den ich irgendwo, vielleicht im Zusammenhang mit der Schtetl-Nostalgie in „Anatevka“, gelesen hatte: imaginäres Judentum. Mit unserem Begleiter Pawel darüber zu reden, liegt nahe – seine Mutter unterrichtet in der jüdischen Gemeinde –, und erscheint mir mangels einer gemeinsamen Sprache doch unmöglich; sein Deutsch ist nicht viel besser als mein Russisch, das gemeinsame Englisch unzulänglich. So wandern wir, von kargen Auskünften begleitet, zur neuen, anstelle des alten Holzbaus 2003 errichteten Synagoge. Im Gemeindehaus finden Vorbereitungen auf Pessach statt (dessen Datum in diesem Jahr mit der christlichen Karwoche und Ostern zusammenfällt). Eine große Gruppe Mädchen und Jungen übt, angefeuert von einer jungen schwarzhaarigen Frau einen mitreißend temperamentvollen Tanz ein, andere Jugendliche basteln und malen. Im Flur hängen Schülerzeichnungen mit biblischen Motiven: dem Turmbau zu Babel, dem Auszug der Kinder Israel aus Ägypten, Moses, der das Meer teilt. In einem Klassenzimmer findet Jiddisch-Unterricht statt. Einige Frauen sind da, Lächeln, Händeschütteln, kurze freundliche Wortwechsel. Pawel begrüßt seine Mutter, dann sind wir wieder draußen. Auf dem Hof zeigt er uns ein winziges Holzhaus, bestimmt für eine Familie, die dort zwei Monate in Schweigen verbringt. Wird es häufig genutzt? Pawel weiß es nicht genau, zur Zeit ist jedenfalls niemand darin.
Die Sonne scheint, der Himmel ist von frühlingshaftem Blau. Der Stadtrundgang führt uns durch breite, leere Straßen, von Denkmal zu Denkmal: ein großer Lenin, auf dem Platz der Freundschaft ein von Chinesen gestiftetes Mahnmal zur Bewahrung der Welt, es steht in einem lichten Park, eine kleine Familie ist dort unterwegs und füttert Tauben, ein junger Mann in Kapuzenjacke sieht zu. Am anderen Ende des Parks ein Soldat aus Bronze, Denkmal zu Ehren „der einheimischen Veteranen aus lokalen Kriegen und kriegerischen Konflikten“. Wir übersetzen das mit Afghanistan, Tschetschenien, Georgien, dem Ussuri-Grenzkonflikt mit China und folgen Pawel an die Bira. Sie ist teils noch vereist und von vertrautem Ausmaß, nicht viel breiter als die Saale in Halle, denke ich. Die Uferpromenade, aufwändig gestaltet mit Mosaikböden, Balustraden, Portalen, Marmorbänken, eleganten Mastleuchten, ist großräumig und menschenleer, die kräftige Gestalt mitten im Wege eine weitere Skulptur des offenbar gut beschäftigten Bildhauers, der hier einen Maler mit Pinsel und Palette sinnend vor eine leere Staffelei gestellt hat. Wir gehen auf ein Gebäude zu, das von fern wie ein Bunker aussieht, sich aus der Nähe indes als kühnes, wenngleich heruntergekommenes Bauwerk erweist: die Philharmonie, deren Akustik, sagt uns Pawel, auf einer höchst seltenen, nur noch in einem Konzertgebäude in Spanien anzutreffenden Technik beruht. Einen Blick ins Innere werfen können wir nicht, das Haus ist außer Betrieb.
Auf dem Rückweg zum Auto möchten wir in der Hauptpost Ansichtskarten kaufen, aber sie ist bereits geschlossen. Auf dem Parkplatz gegenüber gibt es Bewegung, Stimmen und Gelächter: zwei junge Paare sind damit beschäftigt, sich vor einem silbergrauen Wagen zu fotografieren, das ist ein Lexus, sagt Hannes.
Wir treffen Artjom, unseren Chauffeur, an der verabredeten Stelle, in die Lektüre eines dicken Buches vertieft. Unsere Einladung zum Mittagessen lehnt er dankend ab, Pawel hat es nicht anders erwartet. Das Restaurant – früher jüdisch, jetzt ukrainisch mit einigen jüdischen Gerichten auf der Karte – macht einen sehr angenehmen Eindruck. In einem separaten Raum findet eine Familienfeier statt, ein Geburtstag vielleicht, wir sehen sonntäglich gekleidete Kinder mit Geschenken und Luftballons in den Händen. Pawel berät uns bei der Speiseauswahl. Ich esse Borschtsch und einen Nachtisch, den Pawel noch aus der Kindheit kennt: Apfel- und Möhrenstücke mit Rosinen und Zimtsauce. Alles sehr gut.
Wieder am Auto, warte ich auf Hannes und Pawel, die noch im Haus sind, und frage Artjom, ob er auch manchmal essen geht? In der Sowjetunion öfters, mit seiner Frau, sagt er, aber jetzt in Russland niemals, zu teuer. Auf dem Beifahrersitz liegt sein Buch, dem Cover nach muss es sich um einen Thriller handeln oder einen Gruselroman, auch der Titel spricht dafür: Der siebente Kreis der Hölle. Ja, es sei ziemlich spannend, sagt er.
Auf der Rückfahrt nicke ich immer wieder ein und bin verblüfft, wie schnell wir die große Amurbrücke erreichen, als hätten wir eine kürzere Strecke genommen, aber die gibt es nicht, und die Fahrt hat wie auf dem Hinweg etwas über zwei Stunden gedauert.
Am Montag, dem Auftakt unserer Arbeitswoche in Chabarowsk, ist es für hiesige Verhältnisse recht mild, 14 °, sagt Hannes beim Frühstück. Wir sitzen in einem großen mit geblümten Polsterstühlen und weiß gedeckten Tischen ausgestatteten Speisesaal, der in einen weiteren ähnlich möblierten Raum übergeht. Die wenigen Hotelgäste, zumeist jüngere wahrscheinlich dienstreisende Herren, haben sich wie wir wegsparend nahe vom Büffet niedergelassen. Nach den guten Erfahrungen in den Stolowajas der Universität Wladiwostok müssen wir uns hier auf geschmacklosen, blassen Aufschnitt und gummiartigen Käse, hellgrauen Haferschleim, mehliges kaltes Omelett und das Erlebnis umstellen, dass die Pfannkuchen, die wir auf den Nachbartischen sehen, schon aus sind. So wird es bleiben bis zum letzten Frühstück, bei dem Hannes eine Extraportion Pfannkuchen und Marmelade bekommt, Belohnung für unverdrossenes Nachfragen an den Tagen zuvor, sagt er. Ich halte mich nach durchweg enttäuschenden Kostproben an Schwarzbrot und Butter.
Den Tag verbringe ich im Hotelzimmer und bereite mich auf ein Seminar mit den Romanistinnen vor. Wie schon bei einer ähnlichen Veranstaltung in Wladiwostok soll es um den Nouveau Roman und Claude Simon gehen, ein Thema, das ich im Schlaf abhandeln kann, allerdings nicht ohne Mühe zwei Stunden lang auf Französisch. So mache ich mir Notizen und sorge dafür, möglichst viele Zitate unterzubringen. Die „table ronde“ am Dienstag läuft dann sehr gut. Diesmal in einem kleinen Kreis aus drei Dozentinnen, der Dekanin und vier Studierenden (in Wladiwostok waren es etwa fünfzehn), die sich außerdem auf die gemeinsame Lektüre eines in Kopien verteilten Romanauszuges – des ersten Satzes aus „La Route des Flandres“ – vorbereiten konnten. Was wahrscheinlich niemand außer der für die Veranstaltung verantwortlichen Oxana Salichowa getan hat. Und die Dekanin offenbar. Sie liest in vorzüglicher Aussprache die nahezu interpunktionslose Passage vor wie man sie nur lesen kann, wenn man sich mit ihr auseinandergesetzt, ihre Konstruktion, ihren Rhythmus erfasst hat. Für ein eingehendes Gespräch über den Text reicht die Zeit nicht mehr. Am anderen Ende des Raumes ist ein Kaffeetisch gedeckt. Die Studierenden verschwinden, für die Lehrkräfte und mich gibt es Tee, eine nach Napoleon benannte Torte und Schaumgebäck mit verschiedenen Füllungen (eine Wladiwostoker Spezialität, erfahre ich). Die Konversation auf Französisch weicht alsbald einem lebhaften russischen Klagelied über die Nachteile der Zusammenlegung verschiedener Fakultäten, die verlängerten Amtswege, die ausufernde Bürokratie, das durch die Ankunft von Hannes unterbrochen wird. Er holt mich ab zu Einkäufen in der Stadt.
Wir gehen eine der Nord-Süd-Magistralen, die sehr lange, sehr breite Karl-Marx-Straße (an ihr liegt auch unser Hotel „Tourist“) hinunter bis zum Leninplatz, von dort an heißt sie Murawjow-Amurski-Straße und endet an den Amur-Uferanlagen. Geräumigkeit und gepflegte Eleganz aus Sowjetzeiten, saubere Gehwege, großzügige Grünanlagen, in den Läden wenig Betrieb. Wir kaufen dunkle Schokolade in einem kleinen, gut sortierten Geschäft, das Hannes vom letzten Mal kennt, und Mitbringsel in einem Kunstgewerbeladen, den ein Verein betreibt. Hannes kommt auf Englisch sofort ins Gespräch mit einer freundlichen fülligen jungen Verkäuferin. Er erfährt, dass sie Geschichte studiert hat und ihre Schwester in Berlin lebt, dass die angebotenen Produkte hier in der Region gefertigt werden, zum Teil aus indigener Manufaktur, dass wir im Untergeschoss auch Künstlern bei der Arbeit zusehen können. Mit handbemalten hölzernen Ostereiern, Schächtelchen aus Birkenrinde, Bastuntersetzern und einem Flachmann mit Putinkonterfei, Geburtstagsgeschenk für Hannes‘ englischen Freund, verlassen wir das Geschäft, dann erwerbe ich in einem Brillenladen ein silberfarbenes Etui, Ersatz für mein im Flugzeug verlorenes, das sehr stabil wirkt und geräuschvoll zuklappt. Zum Abendessen suchen wir, wie schon am Sonnabend mit Larissa, das ukrainische Lokal auf, das mit Sonnenblumen im Ladenschild sowie rustikalem Interieur für sich wirbt, im Eingangsbereich eine Art Stalltür, davor ein alter Handwagen und, es sieht aus wie frisch lackiert, ein schwarzweißes Kälbchen vom Format eines Bernhardiners. Diesmal probiere ich eine kalte Suppe aus Kwas und saurer Sahne mit Gurke, roter Beete und Kräutern, sehr wohlschmeckend, dann ukrainische Kohlrouladen, leider mit Käse überbacken und viel zu mächtig. Hannes genießt sein Kotljet po kiewski, wir beide das tschechische Bier. Zurück fahren wir mit dem Bus einer Privatgesellschaft, Chauffeur und Kassiererin könnten auch die Eigentümer des schrottreif wirkenden Fahrzeugs sein, schätzen wir.
Im Hotel gibt es noch den abendlichen Schluck Wein, diesmal einen aus dem Rhônetal, gekauft in der an Überzeugung grenzenden Hoffnung, er könne nur besser sein als der chilenische, ausgewählt bei unserer vorigen Einkehr im NK City, wo wir vergebens nach dem guten Rotwein vom Kuban suchten, den wir experimentierfreudig in Wladiwostok erworben hatten. Breites Angebot auch hier, darunter keine der uns bekannten Sorten und leider wiederum kein Glück bei der Auswahl. Trotzdem, das Ritual zählt: abwechselnd Gast und Gastgeber am halbwegs freigeräumten Schreibtisch des Hotelzimmers, das Anstoßen mit den Zahnputzgläsern, die Erzählungen aus unserem Leben. Wie damals in Saratow, in der Wohnung von Clara Iwanowna, unserem Quartier für eine Woche, als Hannes auf seine Gefängniszeit in Leipzig zu sprechen kam und ich auf die Verhaftung meiner Leipziger Freunde um dieselbe Zeit und sich herausstellte, dass beides miteinander zusammenhing, dass unsere Lebenswege sich berührt hatten, ohne dass wir es wussten.
Im „Dialogischen Kolloquium“ über unser Deutschlandbild – es war die erste Veranstaltung in Wladiwostok und wird in Chabarowsk die letzte sein – sprechen wir in wechselnder Ausführlichkeit über unsere Biographien, die Herausbildung ähnlicher Positionen in unterschiedlichen, ideologisch gegensätzlichen Systemen. Für die Studierenden ein Geschehen aus der fernen Vergangenheit fernstehender Personen, ihnen gleichgültig oder vielleicht nahegehend oder irritierend unverständlich – erkennen können wir nichts davon. Anders in einem Fortbildungsseminar für Lehrkräfte (in Chabarowsk) zum gleichen Thema. Da entbrennt ein leidenschaftlicher Streit. Eine dunkle ältere, streng wirkende Frau – Irina, wenn ich richtig verstanden habe, Dozentin an einer Militärakademie – lässt sich auf Unterschiede zwischen Patriotismus und Nationalismus nicht ein, sie sagt zu alledem Vaterlandsliebe und hält diese unbedingt für ein natürliches, wertvolles Gefühl. Natascha hingegen beobachtet die Verherrlichung der Vaterlandsverteidigung, deren Ansätze schon im Kindergarten ihres Sohnes, mit großer Sorge. So geht es eine Weile hin und her, bis Irina befindet – und offenkundig ist dies ein schimpfwortnaher Tadel -: Unsere Natascha ist eine Liberale. Die Betroffene und andere sind amüsiert, alles ist gesagt.
Die kleine Szene bleibt mir im Gedächtnis wie auch eine überraschende Frage nach meiner Lesung in der Fernöstlichen Staatlichen Wissenschaftlichen Bibliothek. Zu dieser Abendveranstaltung holt wiederum Anna Kisseljowa mich ab, die mir von Larissa fürsorglich als Betreuerin zugeteilt worden ist. Ein mir sofort sympathisches, großes schlankes Mädchen in engen Jeans, immer pünktlich zur Stelle und gewissenhaft um Konversation bemüht, der Einsatz gilt für sie als Praktikum in Alltagskommunikation. Wir besprechen das Aprilwetter, launisch in Fernost wie auch in Deutschland, und fahren mit dem Bus bis an den Anfang der Murawjow-Amurski-Straße, zu einem stattlichen dunkelbraunen Haus, das die Bibliothek beherbergt. Der Vortragssaal dort ist schon gut gefüllt, ein gemischtes Publikum, alt und jung, auch Schüler sind dabei. Hannes kommt von einem Besuch bei Bekannten, er bringt ein kleines blondes Mädchen mit, sechzehn Jahre jung. Schüchtern sieht sie aus und ist es gar nicht. Da sie, wie ich gleich erfahre, selber schreibt, fragt sie mich nach meinen Gefühlen beim Schreiben. Dann aber müssen wir anfangen. Der Zeitplan sieht vor: exakt eine Stunde, davon vierzig Minuten für die Lesung, der Rest für die Diskussion. Anastasia Neupokojewa, die vom fünften bis zum zwölften Lebensjahr mit ihrem Militärvater und der Familie in der DDR gelebt hat, stellt mich in perfektem Deutsch vor. Ich lese einen kurzen autobiographischen Text („Dreimal Berlin und ein Epilog“), dann eine Szene aus „Luftweg nach Indien“, in der Erinnerungen an eine weit zurückliegende Reise in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken vorkommen. Wenn ich vom Manuskript aufblicke, sehe ich am anderen Ende des Raumes auf sandfarbenem Grund einen braunen Amurtiger sich anschleichen, während der Diskussion dann in aufmerksame, wohlwollende Gesichter. Es gibt viele Fragen: Ob beim Schreiben für mich eine Rolle spielt, für wen ich schreibe; ob ich die DDR zurückhaben möchte; welche Gefühle ich beim Anblick der Mauer hatte und, darauf war ich nun nicht gefasst, ob ich wisse, wie oft die Lindenbäume Unter den Linden gepflanzt wurden? Mindestens zweimal, sage ich, es können aber auch drei gewesen sein, falls schon nach dem Ersten Weltkrieg …Niemand weiß es genau. Die Veranstaltung endet pünktlich. Die Leiterin der Bibliothek überreicht mir unter herzlichem Beifall einen großen Bildband „Semlja Chabarowskaja“ (er fühlt sich so schwer an, dass ich sofort beschließe, ihn im Hotel zurückzulassen, was Hannes mir zum Glück ausreden wird), dann gruppieren sich alle auf Larissas Geheiß, den Tiger-Wandteppich im Hintergrund, zu den unerlässlichen, willig absolvierten Gruppenfotos. Beim Auseinandergehen hält eine Studentin mich auf, sie hat mir etwas mitgebracht, sorgfältig verpackt: drei selbstgebackene Küchlein, sie sind ganz leicht.
Zusammen mit Larissa, Sergej, Anastasia, Natascha und dem DAAD-Lektor Thorsten Müller fahren wir mit einem Bus der Linie 1 in die Nähe des Bahnhofs (den ich nur bei dieser Gelegenheit, nächtlich illuminiert, zu Gesicht bekomme, ein zweistöckiges palastartiges Gebäude mit heller, schön gegliederter Fassade und grünem Dach), wo sich im „Kinoteatr Druschba“ das Restaurant „Iron Kabis“ befindet, absolut in, sagt Sergej, der befürchtet, dass wir keine Plätze mehr bekommen. Im Gastraum macht gerade das Fernsehen Aufnahmen, Helligkeit und Gewusel, dennoch: ein großer runder Tisch ist frei. Nach langwierigem Beratschlagen, Auswählen, Bestellen, Warten bekommen alle das Gewünschte, die Mehrheit (so auch ich) Piroggen, eine Spezialität des Hauses, ganz vorzüglich. Ein Abend, an dem lebhaft durcheinander über alles und nichts geredet wird, man hat es gleich wieder vergessen und fühlt sich einfach wohl dabei.
Am nächsten Vormittag habe ich frei. Draußen Sonne, frischer Wind, ich folge Hannes‘ Empfehlung und mache einen Spaziergang. Vorbei an der Universität und dem Puschkin-Denkmal, auf dessen Sockel (wahrscheinlich stets) Blumensträuße liegen, rote Nelken vor allem. Dann in die nächste Querstraße nach links, an dem weitläufigen, von einer Reihe (um diese Jahreszeit wasserlosen) Teiche gesäumten Stadtpark entlang, der das Dynamostadion umschließt und zu den Attraktionen der Stadt gehört. Auf der anderen Straßenseite ein Areal modernes Chabarowsk: hohe, zum Teil schräge Wohnhäuser und die attraktive Platinum Arena, ein gewölbtes mächtiges Gebäude, als Eissporthalle Austragungsort der Heimspiele vom Hockeyclub Amur Chabarowsk, manchmal finden dort auch Rock-Konzerte statt. Jetzt Stille und Leere ringsum, wenige Autos auf dem riesigen Parkplatz. Auf dem Rückweg komme ich an einem älteren kleinen Haus vorbei, das mit seinem Ockergelb hervorsticht und einen Schaukasten trägt. Ich bleibe stehen. Hinter Glas Fotos von Massenaufmärschen, darüber ein lächelndes Gesicht in einer Aureole: „Nasch ljubimyi woschdj Kim Ir Sen“. Rasch fotografiere ich, auf das Erscheinen eines Wachpostens gefasst, das Haus beherbergt ein Konsulat der Demokratischen Volksrepublik Korea. Die Fotos will ich Jörn schicken, suche in meinem Smartphone unter Sprache und Eingabe nach Russisch, tippe versehentlich sonstwohin und sehe fasziniert zu, wie auf dem Display eine für mich unleserliche Schrift erscheint, die mir doch irgendwie bekannt vorkommt, Hindi, beschließe ich und lasse das Ganze vorläufig auf sich beruhen. Ich muss nun schleunigst los in die Universität zu meinem Vortrag über „Berlin als geteilte Stadt der Literatur“. An der Eingangskontrolle erwartet mich schon Anna. Ich gebe ihr ein vorbereitetes Blatt mit Schriftstellernamen zum Anschreiben. Auch sie gibt mir etwas, das in einer Geschenktüte steckt. Mir habe doch in der Bibliothek der Amur-Tiger so gefallen. Selbst gemacht, sagt sie. Zum Vorschein kommt ein kleines Stofftier zum Anhängen, orangerot und weiß mit schwarzen Streifen, grünen Augen, aufmerksam und freundlich sieht es aus. Ich bin gerührt. In Deutschland kaum vorstellbar, denke ich, wie auch das Selbstgebackene gestern.
Beim Abendessen in einem Restaurant gegenüber der Universität – wo die Beleuchtung spärlich, die westeuropäisch inspirierte Küche exzellent ist – komme ich mit Thorsten Müller ins Gespräch, der noch nicht lange als DAAD Lektor in Chabarowsk arbeitet. Ihm gefällt das Leben hier: Es ist anders als in seiner schwäbischen Heimat, man kann spontan bei Leuten auftauchen, kurz entschlossen etwas unternehmen. Weniger Förmlichkeit und Planung, sagt er, mehr Freiheit.
Der letzter Arbeitstag endet am frühen Nachmittag mit dem „Dialogischen Kolloquium“ über unser Deutschlandbild, diesmal als Blockseminar (zu dem Hannes etwas später kommt, weil er Plätze für uns im Flugzeug nach Moskau bucht). Eine gelungene Veranstaltung, aufmerksame Zuhörer, Fragen von Sergej und Pawel. Zum Abschluss erscheint Larissa. Sie überreicht Hannes und mir einen „Blagodarstwennoje Pismo“ mit Stempel und Unterschrift des Institutsdirektors, der für unsere „Unterstützung der internationalen akademischen Beziehungen auf dem Gebiet der Germanistik“ dankt. Dann unterschreiben wir einen kräftigen Stapel Teilnahmebescheinigungen für die Studierenden.
In ihrem Büro hat Larissa noch Geschenke für uns, bunte Banderolen zum Färben von Ostereiern und für jeden ein großes, standfestes Osterei aus dickwandigem Porzellan, mit Blüten und einer kuppeltürmigen Kirche kobaltblau bemalt in dem volkstümlichem Stil, der typisch ist für die bekannte Keramik aus Gschel (von der ich bis dahin nichts wusste). Außerdem schenkt uns Larissa Karten zu einem Konzert. Bevor wir sie abends wieder treffen, gehen Hannes und ich zurück ins Hotel. Das nahende Fest macht sich auf den Straßen schon bemerkbar, Zweige voller Weidenkätzchen und Erdbeeren aus China an jeder Ecke, Stände mit Pascha und Kulitsch, den russischen Ostergerichten.
Festliche Stimmung auch in der Philharmonie. Ein Publikum, das mich an Konzertbesuche zu DDR-Zeiten erinnert und Wolken geraffter Vorhänge über der Bühne. Im großen Saal kein freier Platz mehr, soweit wir blicken. Der Anfang verzögert sich, man wartet noch auf den russischen Kulturminister und den Gouverneur der Region, das Konzert bildet den Abschluss des VII. Internationalen Musikfestivals 2017 im Kraj Chabarowsk. Es spielen die „Moskauer Solisten“, ein berühmtes Kammerorchester unter Leitung des berühmten Bratschisten und Dirigenten Juri Baschmet, für Hannes und mich Entdeckungen – wie auch die Solisten: die sehr junge Geigerin Marija Tiljuk (sie spielt eine „Méditation“ von Tschaikowsky), der Pianist Iwan Rudin mit Mozarts 12. Klavierkonzert in A-Dur und der auch als Jazzmusiker prominente Hornist Arkadi Schilkloper in Leopold Mozarts Sinfonia Pastorale G-Dur sowie einer bejubelten eigenen Komposition für Alphorn und Streichorchester. Hinreissende Spielfreude vom ersten Stück, einem Präludium und Scherzo von Schostakowitsch, bis zur Filmmusik von Toru Takemitsu am Schluss, mit der das Konzert aber noch nicht zu Ende ist. Nach rauschendem Beifall zwei Zugaben: der Walzer aus „Schwanensee“ und ein Solostück für Bratsche, das Baschmet wie ein zweiter Paganini, sagt Larissa, mit sichtlichem Spaß an der Virtuosität spielt. Dann gibt es Dankesworte vom Kraj-Chef Wjatscheslaw Schport, Blumen und wieder Beifall. Beglückt ziehen wir in das Restaurant La Vita zum Abschiedsessen, lassen die Tage Revue passieren und danken Larissa für ein Management, das uns den Aufenthalt zum Vergnügen gemacht, für sie indes eine zusätzliche Portion Stress bedeutet hat. Das schon, sagt sie, aber einen sehr angenehmen, und er könnte sich gern in einem der nächsten Jahre wiederholen.
Am Sonnabend bringt uns der schweigsame Student Sascha in einer Uni-Limousine zum Flughafen. Dort wartet bereits meine Betreuerin Anna, um sich zu verabschieden. Ich hätte es nicht erwartet und bin einmal mehr gerührt. Die Abfertigung zieht sich in die Länge, aber dank Hannes‘ Umsicht haben wir die Bordkarten ja schon. Bei der Gepäckkontrolle werde ich herausgewinkt, in meinem Handgepäck befinde sich unerlaubter Inhalt. In der Tat. Beim mehrmaligen Umpacken am Morgen habe ich den Wodka für Jörn im Rucksack vergessen. Jetzt muss er draußen bleiben. Ich gebe ihn einer Kontrolleurin, sage: sawtra prasdnik und ernte verwunderte Blicke. Im Duty free Shop erwerbe ich dieselbe Marke in einer noch größeren Flasche zum Aktionspreis. Wir starten pünktlich 13:45 und fliegen (mit einer Boeing 777-300ER, dem größten zweistrahligen Flugzeug der Welt, lese ich) die ganze Zeit bei Helligkeit, sieben und eine dreiviertel Stunde lang, nach meinem Gefühl endlos, doch auf der umgestellten Uhr ist es bei der Ankunft in Moskau 14:25. Im Flughafen Scheremetjewo ist Hannes in einer „Schokoladnaja“ mit Vika verabredet, die an einer medizinischen Hochschule Deutsch unterrichtet. Ich komme mit und erlebe eine anziehende junge Frau, lebhaft, anmutig. Sie hat gerade in einem Moskauer Wissenschaftsverlag ein Büchlein über Marcel Reich-Ranicki veröffentlicht, auf Russisch, aber sie hätte es auch auf Deutsch schreiben können, denke ich. Sie übertrifft noch, Sergej ausgenommen, all die Sprachgewandten, mit denen wir hier zu tun hatten. Und als sie sagt, Moskau sei eine unglaublich interessante Stadt, bin ich, trotz meiner eigenen allerdings weit zurückliegenden Eindrücke, sofort bereit, ihr zu glauben. Belebt von diesem Treffen und dem grünen Tee, zu dem Vika uns eingeladen hat, begeben wir uns zum Check-in für den Flug nach Düsseldorf, der – es erscheint einem nun kurz – knapp dreieinhalb Stunden dauert. Der Airbus ist halb leer, das warme Essen verschmähen wir, den guten Rotwein aber nicht. Ich lese in der Moskauer Deutschen Zeitung, die Hannes uns bei einer der Stewardessen besorgt hat, und erfahre, was DNA-Analysen des Moskauer Zentrums Genotek erbracht haben:
In genetisch bedingten „objektiven“ Faktoren wie Körperbau, Aussehen, Widerstandsfähigkeit seien die Russen zu fast neunzig Prozent „aus europäischem Holz geschnitzt“, zu knapp zehn Prozent aus asiatischem. Jedoch, wenn Russen von Europa reden, heißt es in dem Artikel (auf der Titelseite), „klingt das oft so, als ob sie nicht dazugehörten, dabei haben sie Europa gefühlt bis zum Baikalsee und Pazifik verlängert, wo es selbst in Wladiwostok noch absolut europäisch zugeht.“ Ich überlasse mich meinen Erinnerungen und nicke ein. Beim Aufwachen sehe ich hinunter auf erleuchtete Ortschaften in der Nacht, ein dichtes, feines Netz aus Lichtern, schon ziemlich nah. In Düsseldorf holt Bärbel uns mit dem Auto ab. Ich telefoniere mit Jörn, der unseren Flug im Internet verfolgt hat.
Gegen dreiundzwanzig Uhr sind wir zurück in Essen und gehen sehr bald schlafen.
Als ich aufwache, wird es gerade hell. Die Vögel singen, die Bäume sind zartgrün. Es ist Ostern. Nach einem üppigen Frühstück bringt Hannes mich zum Bahnhof. In einem pünktlichen, dünn besetzten Zug fahre ich nach Hause.