Weibliches Schreiben
Zu einigen Aspekten französischer Frauentexte der siebziger Jahre
Der Beitrag über „Frauentexte“ und „Weibliches Schreiben“, mit dem ich mich an den damaligen Debatten um eine feministische Literaturtheorie beteiligte, ist zugleich ein Produkt grenzüberschreitender Kommunikation. Als Literaturwissenschaftlerin an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften war ich in Austausch mit den Westberliner Romanistinnen Lieselotte Steinbrügge und Carola Deutsch seit deren Artikel über das Frauenbild Alain Robbe-Grillets in der Zeitschrift für Frankreichforschung + Französischstudium Lendemains (Heft 20/1980). Für das von Lieselotte Steinbrügge herausgegebene Heft zum Thema „Frauen und Literatur“ schrieb ich den Artikel Frauentexte und Weiblichkeitsmythos. Zum Postulat einer écriture féminine am Beispiel von Hélène Cixous‘ „Anankè“ (in: Lendemains 25 und 26/1982, S. 127-135). Die erweiterte Fassung dieses Textes ist dann 1985 in den Weimarer Beiträgen erschienen .
Streit um den Nouveau Roman
Aus der Einleitung
“Gegen Mitte der fünfziger Jahre begannen in Frankreich einige Bücher aufzufallen, die sich als Romane darboten und doch keine, zumindest keine echten, zu sein schienen. Obwohl ihre Verfasser unabhängig voneinander arbeiteten und sich zunächst gegenseitig kaum kannten, verstärkte sich der Eindruck, eine neue literarische Richtung
oder Schule sei entstanden. Deren Besonderheit ließ sich nicht an gemeinschaftlich unterzeichneten Manifesten, einem gemeinsamen Programm, einer eigenen Zeitschrift ablesen; denn im Unterschied etwa zu den Surrealisten oder zu der in den sechziger Jahren entstehenden Gruppe Tel Quel gab es all das nicht. Vielmehr wurden einzelne Schriftsteller von außen her, durch die Literaturkritik, die in ihren Werken Gemeinsamkeiten entdeckte, miteinander in Verbindung gebracht. Als Gemeinsames trat zunächst das hervor, was den Romanen fehlte oder was sie nicht taten. Weder erzählten sie eine bemerkenswerte Geschichte, noch gestalteten sie Personen mit ihren
Erlebnissen und Konflikten. Sie lieferten keine großen Zeitgemälde und keine minutiösen Bewußtseinsanalysen. Sie zu lesen war weder spannend noch amüsant. Sie bereiteten Mühe, erzeugten Gefühle der Ratlosigkeit, Enttäuschung, auch Langeweile. Für die Mehrzahl der Zeitungskritiker und des Publikums handelte es sich um Romane,
“die der Verlag ‚Editions de Minuit‘ herausbrachte und die entschlossen waren, mit der westeuropäischen Romantradition reinen Tisch zu machen, durch Abschaffung des Romanheldcn und seiner Psychologie, durch Zerbrösclung der Handlung, durch äußerst ungereimte Konstruktionen und endlose zwanghafte Beschreibungen vollkommen uninteressanter Objekte“. Unter den freigebig verteilten Sammelbezeichnungen für diese eigenartigen Produkte – Anti-Romane, weiße Romane, tabula-rasa-Romane, Schule des Blicks, Schule der Verweigerung – setzte sich schließlich der Name Nouveau Roman (Neuer Roman) durch.”
Die Sinne und der Sinn
Vorwort Claude Simon lesen.
Noch in den Übersetzungen den Rhythmus der Sätze spüren, die Musikalität seiner Sprache, die barocke Üppigkeit der Bilder genießen. Erleben, wie das nicht-sinnliche Medium der Schrift in Simons Texten alle Sinne reizt. Im Sog seiner Beschreibungen die Bilder im eigenen Kopf herstellen, dem Konturlosen Gestalt verleihen. Eine Welt entdecken, in der es nichts gibt, das keine Aufmerksamkeit verdiente. Immer wieder sich einnehmen lassen von einer Schreibweise, die „aus einem Sprechen über fast nichts ein Erzählen über fast alles macht“. (Wilhelm Genazino).
Gerade Schriftsteller gehören zu den faszinierten Lesern Simons, dessen Werk „die Lust des Schreibers am Schreiben, wie Funken, aus dem Feuerstein geschlagen, die Lust der Flamme am Brennen beständig aufs neue entfacht. Denn Schreiben heißt immer zuallererst Lesen.“ (Reinhard Jirgl)
Das Simon gewidmete Heft der Schweizerischen Kulturzeitschrift ‚du’ (Januar 1999) enthält neben jüngeren auch die frühe Würdigung Simons durch einen Kollegen: Jean Améry, der 1971 schrieb: „Sollte jemand mich fragen, welche Autoren ich für die wichtigsten Romanciers der Gegenwart halte, würde ich einen Deutschen und einen Franzosen nennen: Günter Grass und Claude Simon, wobei dann allenfalls noch ein besonderer Akzent auf den Namen des Franzosen zu setzen wäre. […] Er ist der späte und großartigste Nachfolger Marcel Prousts, […] und wiewohl dem modernen Leser Proust im Vergleich zu Simon als einfach und herkömmlich erscheinen mag, ist doch in jeder Metapher des Jüngeren der Einfluss des geistigen Vorfahren nachzuweisen.“
Ein Romancier „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, ein Autor, der „über Zeit und Gedächtnis“ schreibt, ein „Proust für die Armen“ – seit Beginn der sechziger Jahre wurde Simon in der Öffentlichkeit Frankreichs als Nachfolger Prousts und zugleich Repräsentant einer Moderne wahrgenommen, die mit ihrer Abkehr von traditionellen Erzählformen heftig umstritten war. Sie spaltete die Literaturkritik und die Leserschaft. Ein Autor mit „Breitenwirkung“ innerhalb des literarisch interessierten Publikums ist Simon trotz zahlreicher Übersetzungen und des angesehensten aller Preise nicht geworden. Auch hierzulande nicht, wo er nach eigener Aussage seine treuesten Leser gefunden hat. Seine Bücher sind – bis auf drei Romane, die das lediglich als Vorstufe geltende Frühwerk bilden – sämtlich auf Deutsch erschienen, siebzehn insgesamt1. Außerdem ein so instruktiver wie unterhaltsamer „Romannavigator“ von Rolf Vollmann: Akazie und Orion. Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons.
Und doch: Fast alle, denen ich kundtat, über Claude Simon schreiben zu wollen, hatten kein Buch von ihm gelesen. Den meisten war immerhin der Name ein Begriff, ein- oder zweimal freilich infolge einer Verwechslung: Ah, Maigret! Auf meine Erläuterungen dann häufig die Frage, was es also werden solle: eine Biographie? Sie wäre in diesem Fall überflüssig. Es genügt, die wesentlichen biographischen Fakten zu kennen. Die Geschichten seines Lebens hat Simon in aufeinander bezogenen Texten beharrlich befragt und seine Darstellungen in immer weniger “romanhaften“ oder fiktionalen Versionen niedergeschrieben. Dies im Bewusstsein, dass Erinnerungen und Erlebnisse den Fundus bilden, Vorgaben oder Impulse liefern, nicht aber „Gegenstände“ sind, die das Schreiben „wiedergibt“. In seiner Nobelpreisrede (1985 in Stockholm) sagte Simon, nie schreibe (oder beschreibe) er „etwas, das vor der Arbeit des Schreibens stattgefunden hat, sondern eben das, was im Lauf der Arbeit geschieht (in jeder Hinsicht des Wortes), in ihrer Gegenwart, etwas, das nicht aus dem Widerstreit zwischen der sehr vagen Anfangsidee und der Sprache hervorgeht, sondern aus einer Symbiose zwischen beiden, durch die, wenigstens bei mir, das Ergebnis unendlich reicher ist als die Absicht.“ Reicher auch, als die in einer Biographie versammelte Information über außerhalb der Texte liegende Realität sein könnte.
Biographisches wird zur Sprache kommen, soweit es in den Texten selbst erscheint oder im Kontext von Simons Kunstauffassung eine Rolle spielt.
Nachgezeichnet wird die Entwicklung eines Romanwerkes, das zu den bedeutendsten jenes Jahrhunderts gehört, in dessen Geschichte es verankert ist mit seinen Stoffen und deren Darbietung. Was ihn als Schriftsteller zum geschichtlichen Subjekt mache, sagte Simon, sei einzig die Art seines Schreibens. Auch um sie wird es gehen. Und um den Versuch zu zeigen, welches Lesen seine Texte herausfordern. Durchaus im Sinne der historischen Direktive Amérys: „Nichts darf unterlassen werden, die deutschsprachigen Leser für Claude Simon zu gewinnen“ möchte mein Buch dazu einladen, Claude Simon zu lesen.
Claude Simon
Archipel / Nord
Kleine Schriften und Photographien
Vorwort Brigitte Burmeister
Alle Romane Claude Simons lassen sich als Erinnerungstexte lesen, entstanden auf der Basis von Erlebtem. Die Lust etwas herzustellen bestimmte sein Schreiben ebenso wie der fortgesetzte Versuch, zu sagen wie es war, die vom Gedächtnis bewahrten Lebensspuren in Sprache zu verwandeln. Kein Schwelgen in Erinnerungen, keine Geschichten von früher. Das Erinnerte ist ein Magma von Empfindungen und Sinneseindrücken, chaotisch, simultan, diskontinuierlich. Ein Ensemble von Bruchstücken, isolierten Augenblicken, gleichsam stehenden Bildern. Und darin verkapselt wie ein Fremdkörper, für immer eingenistet das Trauma des Krieges, das Erlebnis von Todesnähe, Gefangenschaft, Hunger.